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25. Juni 2013

Das andere Amerika

Kommerz. Stars. Wildwest-Romantik. Fantastische Natur. Das sind wohl Stichworte, die uns zu Amerika einfallen. Doch das ist nur ein Teil von Amerika (und dazu zählen wir für einmal auch Kanada). Während unserer Reise haben wir auch Einblicke in "Das Andere Amerika" erhalten.
Es ist das Amerika der Tellerwäscher, die Tellerwäscher geblieben sind. Für die der amerikanische Traum ein Traum bleiben wird. Die Amerikaner, die das Leben nehmen, wie es ist – ohne darüber zu jammern oder zu philosophieren. Und auch jene, die sich täglich dem stellen müssen, was für andere ein Alptraum wäre. Es ist aber auch das Kleinstadtamerika, das nichts mit dem Glanz und dem Protz gemein hat, das uns Hollywood und die Klatschheftchen zeigen. Und letztlich das Amerika, in dem wohl die Mehrheit der Amerikaner lebt.

- Da ist John (alle Namen sind geändert), den wir auf einem Gratis-Campingplatz im Death Valley Nationalpark kennen lernen. Er sucht sich die öffentlichen und kostenlosen Campingplätze heraus, bleibt so lange er darf (meistens 14 bis 30 Tage), fährt dann weiter zum nächsten. Vor kurzem hat er sein altes Auto gegen ein altes Wohnmobil eingetauscht. Jeden Morgen sprayt er seinen Schlafsack mit Pestizid - gegen die Flöhe, die sich eingenistet haben. Es geht gegen Ende Monat und er schreibt sich eine Liste, was er sich mit seinen 900 Dollar Rente als dringendstes kaufen muss, sobald das Geld da ist. Den Check muss er im Briefkasten seines Hauses abholen. Er möchte es verkaufen, bis jetzt ist er es aber nicht losgeworden. Dort wohnen will er nicht mehr. Seine Frau ist seit ein paar Jahren tot und auch John leidet unter Krebs. Behandeln lassen will er sich nicht – und vermutlich könnte er es sich auch gar nicht leisten.

- Campingplatz ist nicht gleich Campingplatz. Manche sind für Ferienzwecke gedacht, so die Kette KOA oder die Zeltplätze in den Naturparks. Die Mehrheit der RV-/ oder Trailerparks jedoch sind für Dauernutzer gedacht und konzipiert. Auf den schöneren von ihnen verbringen die wohlhabenderen Rentner mit ihren grossen, glänzenden Wohnmobilen die Wintermonate. Und dann gibt es noch die billigen Trailerparks. Schäbige Wohnwagen reihen sich dort aneinander, vielleicht gibt es ein heruntergekommenes Duschhaus, mit Glück einen Betonvorplatz für Tisch und Stuhl. Meistens ist der Vorplatz aber zugestellt mit billigen und mit Schrott gefüllten Plastikhüttchen. In den Trailern leben Rentner, junge Einzelpersonen, Alleinerziehende. Manchmal gibt es Kinder. Das sieht man an einem kaputten Dreirad unter dem Camper. Die Kinder sieht man nie. Wahrscheinlich schauen sie im Trailer fern.

- Manchmal füllt neben uns an der Tankstelle (jener mit dem billigsten Preisen) jemand für drei Dollar fünfzig Cent eine Gallone des billigsten Benzins (87 Oktan) in den Tank seines rostigen Autos.

- Wie manches Kaff haben wir gesehen, dessen leere, zerfallene Häuser Zeugen besserer, aber längst vergangener Zeiten waren. Dörfer, in deren kurzen Hauptstrasse am Freitagabend die Dorfjugend zwei Runden in rostigen, aber hemdsärmelig aufgepeppten Pickups drehte, bevor sie sich an der Tankstelle zwei Beutel Chips, eine Flasche Cola und einen Film holte.

- Da sind die Walmarts, auf deren Parkplätze die schönen, grossen Wohnmobile der Durchreisenden für eine Nacht gratis stehen. Und dann gibt's jene Walmarts, auf denen die alten, schäbigen Autos all jener stehen, die sich keine Wohnung leisten können. Sie kommen in der Dämmerung, holen Kissen und Decke aus dem Kofferraum, schlafen und sind am anderen Morgen früh wieder weg. Manchmal hangen schöne, fein gebügelte Arbeitshemden am Rückfenster des Autos.

- Vom Wohnmobil aus kann man auch den Menschen zuschauen, die in den Walmart gehen – die ganze Nacht über. Viele Walmart-Kunden sind ganz "normal", auch wenn sie vielleicht unförmige Kleider tragen, dicke Hintern haben oder nachts um zehn noch mit kleinen Kindern einkaufen gehen. Aber manchmal hört man durch Fenster auch jene, welche ihren Kindern zuzischen: "Wenn du jetzt nicht sofort deinen verdammten Arsch in den verdammten Wagen bewegst, dann prügel ich dich zu Hause windelweich, du verdammter Bastard."

- Eine Kultlektüre in den USA ist das Buch "Nickel & Dimed" von Barbara Ehrenreich. Die Journalistin beschreibt darin einen Selbstversuch, sich mit Niedriglohn-Jobs in Amerika ein Überleben zu sichern. Je drei Monate lang arbeitete sie als Serviererin, Verkäuferin und Putzfrau– zu rund sieben Dollar pro Stunde (ohne Krankentaggeld, Ferien oder 13. Monatslohn). Selbst wenn man dem Buch das Hochstilisierte, Sensationelle wegdenkt, rüttelt es auf. Trinkgeld geben fällt mir seither leichter.

- Da ist das Motel in Florida, in dem wir zwei Nächte Zuflucht vor der Hitze suchten. Wir wählen es aus einer ganzen Reihe von billigen Motels, geführt von wahrscheinlich anspruchslosen Asiaten, alle zum selben günstigen Preis. Es ist kein Bijou, selbst wenn es ordentlich und anständig geführt wird. Die Türen sind vermodert, die Badinfrastruktur mit Grünspan bedeckt, die Sessel fleckig. Manche der Gäste machen den Anschein, im Motel seit längerem zu Hause zu sein. Gehören sie zu jenen, die im Motel leben, weil sie sich das Depot für eine Wohnung nicht leisten können?

- Wir sind durch faszinierende Landschaften gefahren, an abgelegenen Orten vorbei. Und manchmal auch vorbei an alleinstehenden Farmen, einst schöne Häuser, heute verfallen und zugemüllt mit alten Autos, Abfall und kaputtem Plastikschrott. Wie die Leute wohl sind, die dort leben? Haben sie ihr Leben im Griff? Sind sie einsam, so weit von der nächsten Siedlung entfernt? Unweigerlich kommt mir der Film "Winter's Bone" in den Sinn, den ich vor ein paar Jahren in der Schweiz gesehen habe. Es geht um ein 16-jähriges Mädchen, das in einem abgelegenen Dorf, in einer Gesellschaft, in der selbst der Sheriff nichts zu sagen hat, seinen kleinkriminellen Vater suchen muss, um das Haus für die depressive Mutter und die zwei kleinen Geschwister vor der Versteigerung zu retten. Der Film wurde angepriesen als "Einblick in das andere Amerika".

- Wir haben Linda getroffen. Sie verlor in der Wirtschaftskrise ihren Job in Florida. Somit musste sie auch ihr Haus verkaufen und zurück in den Norden ziehen. Hier lebt sie nun ganzjährig auf einem Campingplatz.

- Auch Peter ist ein Opfer der Immobilienkrise. Er führt zwar noch immer ein sehr gutes Leben. Doch um das finanzieren zu können, ist an Ruhestand nicht zu denken. Der 65-Jährige Akademiker hat alles Pensionsgeld verspekuliert.

- Wir lernen Ron mit dem Halskragen auf einer Raststätte ausserhalb von San Francisco kennen. Es ist weit und breit der einige Ort, an dem Parkieren über Nacht nicht explizit verboten wird. Ron kommt fast jede Nacht hierher und kennt die Leute um ihn herum. Die Polizei sei okay, sagt er, sofern man nicht viel länger als die erlaubten acht Stunden bleibe. Tagsüber müsse er sich halt an einen anderen Ort stellen…

- Auch in Texas fällt uns ein älterer Mann auf, der sich gelangweilt auf einer Raststätte herumtreibt. Zuerst fragt er bei der Touristeninformation nach gratis Kaffee. Dann geht er mit seinem viel zu dicken Schosshund Gassi. Schliesslich setzt er sich neben sein Auto auf den Randstein, streichelt geistesabwesend sein Fifi und wartet. Die Autonummer ist vom Norden. Im Auto sind Taschen voller Kleider. Wahrscheinlich wieder ein Rentner, der vor der Einsamkeit davonzufahren versucht.

- Im Radio, Fernsehen und auf Plakaten am Strassenrand wird für "Instant-Cash" geworben. Lohnvorzug. Mikrokredite. Oder "Das Auto, von dem Sie immer dachten, dass Sie es sich nicht leisten können". Wahrscheinlich nutzen mehr Leute solche Angebote, als wir uns vorstellen können.

- Am Strassenrand gibt es immer wieder Leute, die den Autofahrern eine Werbetafel für irgendein Geschäft entgegen Strecken. Meistens sind es Schüler, die sich so ein Trinkgeld verdienen. Nicht immer nehmen sie ihren Job tierisch ernst, manch einen ertappen wir beim Luftgitarre-Spielen oder Herumblödeln. Aber da sind auch die Männer und Frauen, die desillusioniert am Strassenrand stehen. Fürs tägliche Brot müssen sie wohl jeden noch so demütigenden Job annehmen.

- Da ist der Köder-Laden am See. Ein einfacher, alter Holzbretterverschlag. Seit fünfzig Jahren verkaufen Dan und Jane dort Köder. Jeden Tag von sechs Uhr früh bis irgendwann am Nachmittag. Wenn keine Kunden da sind, sitzen Dan und Jane vor dem Laden, trinken und schwatzen mit den Rentnern, die in der engen "Ferienhaus-Siedlung" nebenan dauerwohnen.

- Die Kunden von Dan und Jane sind Mittelklasse-Menschen, die sich am See entspannen. Aber ab und zu ist auch einer dabei, der sich schlicht keine teurere Freizeitbeschäftigung leisten kann. Es sind jene, die uns mit grossen Augen anschauen, wenn wir erzählen, dass wir aus Europa kommen. Weiter als ein paar Meilen fahren wäre für sie nämlich zu viel "Gas-Money". Und bei manchem von ihnen haben wir auch das Gefühl, dass der Fischerfolg mehr ist, als ein Ego-Booster. Gut möglich, dass die Fleischration für die ganze nächste Woche davon abhängt.

Wohlverstanden, auch wir haben das eine oder andere "Gratis-Angebot" genutzt. Wir sind bei Walmart und auf Raststätten gestanden über Nacht, haben bei Walmart und im Second-Hand-Laden eingekauft, am See unser Abendessen gefischt und Kaffee von der Touristeninformation geholt. Doch im Unterschied zu vielen unserer "Gspänli" waren wir nicht dringend darauf angewiesen. Wir haben uns übrigens auch nie unwohl gefühlt. Denn die Menschen, die wir getroffen haben, sind keine Taugenichtse oder Kleinkriminelle. Es sind anständige, fleissige Menschen – für die das Schicksal nun mal keinen "American Dream" vorgesehen hatte. Fast immer wurden wir von ihnen warm empfangen und gerne in die Geheimnisse ihres Lebens eingeweiht. Manchmal boten wir auch eine willkommene Abwechslung im Alltagstrott. "Ihr seid die ersten Europäer, mit denen ich je gesprochen habe", sagte uns einer. Ich vermute, das traf nicht nur auf ihn zu.

1 Kommentar:

  1. Eindrücklich, diese Schilderungen! Sie stimmen auch mich als Leser nachdenklich.

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