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4. November 2013

Die Guten, die Bösen und alle dazwischen


Wir verlassen Chiapas und insbesondere San Cristobal de las Casas mit gemischten Gefühlen. Im südlichsten der mexikanischen Bundesstaaten prallen Kulturen aufeinander, wie es selten an einem Ort der Fall ist. Chiapas ist noch sehr von den indigenen Völkergruppen geprägt, was in unserer modernen Welt zwangsläufig auch das Interesse von Wissenschaftlern und Ideologen auf sich zieht – natürlich auch von uns.

So ist es kaum verwunderlich, dass sich das Kolonialstädtchen San Cristobal zu einer Tourismusstadt gewandelt hat mit einem für die Region ausserordentlichen Angebot an touristischer Infrastruktur. San Cristobal ist geformt vom Individualtourismus, austauschbar und globalisiert durch und durch, mit einem Touch von ebenso globalisiertem "Ethno". Es ist der perfekte Ort, sich nach anstrengendem Reisen im Bekannten zurück zu lehnen und die Sauberkeit zu geniessen. Nur gelingt es mir nicht so recht, mich zu entspannen. San Cristobal ist kein Disneyland. Trotz inszeniertem "Love and Peace" drückt die Realität an jeder Naht durch.


Ein Augenschein in der Fussgängerzone
Fussgängerzone beim Carmen-Bogen
In der herausgeputzen Fussgängerzone stellen schicke Gallerien, im Besitz von Stadtmexikanern, Amerikanern und Europäern, lokales Handwerk zu europäischen Preisen aus. Die Touristen schlendern von Geschäft zu Geschäft, schmökern, stöbern, kaufen. Draussen stolpern Mayahändlerinnen – jene mit den schmutzigen Kindern – durch die Touristenmenge, versuchen die selben Sachen spottbillig loszuwerden. Sie werden fast immer mit einer mehr oder weniger freundlichen Geste abgewisen. "No Gracias", noch bevor die Ware angeschaut wurde. Das Selbe bekommt der Glacehändler zu hören – schliesslich wirkt die verpackte Nestlé-Glace vertrauenswürdiger als der seit Stunden gebrauchte Glace-Spachtel. In der Fussgängerzone, zwischen all den schicken, hellen, grossgewachsenen Menschen, wirken die Maya in ihrer Tracht irgendwie fehl am Platz. Ich ertappe mich selber dabei, wie ich die genähten Figürchen für zehn Pesos ungeduldig abweise, hingegen einem Hilfswerk lächelnd zehn Pesos in die Kasse werfe. Es ist ein internationales oder zumindest städtisches Hilfswerk, das sich für die armen Maya in den Dörfern einsetzt. Auch die Mayafrau, die neben einem behinderten Mann sitzt, erhält von mir fünf Pesos. Betteln ist hier lukrativer als arbeiten.
Die Strassenhändler erhalten Konkurrenz von Reisenden – offensichtlich mit schmalen Budget – die sich mit dem Verkauf ihrer selbstgemachten Souvenirs und Backwaren durchfüttern wollen. Ohne Arbeits- und ohne Verkaufsbewilligung (wie auch die Maya), hingegen mit der Möglichkeit im Rücken, im Heimatland durch Arbeiten gutes Geld zu verdienen.
Die Galerien verkaufen den Touristen auch bunte Zapatistenbildchen, schöne Zeichnungen mit den Schlagwörtern "Peace" und "Justice". Die ausländischen Idealisten kaufen sich den Frieden und finanzieren damit den Bergbewohnern den Krieg. Dorfbewohner, die mit den ausländischen Touristen nota bene nichts zu tun haben wollen.
Täglich finden in der Touristenzone kulturelle Angebote statt. Angebote, die offensichtlich auf die Touristen ausgerichtet sind. Angebote von "westlichen" Einwanderern in "westlichen" Kaffees und Zapatistenfilme, in denen sich die Zapatistenbewegung den Zapatisten-Sympathisanten vorstellt. Bei uns würde das Propaganda heissen, hier heisst es "Alternativkultur". Einheimische findet man an diesen Orten nicht.
Die Fussgängerzone zu verlassen, dazu gibt es eigentlich keinen Grund. Es gibt wenig Attraktives. Es ist lärmig, chaotisch und fremd da draussen. Die Mayakultur, die alle suchen, findet sich in einer schön aufbereiteten Form zur Genüge in der Fussgängerzone. Die Maya-Realität würde da nur stören.

Die Protagonisten
Die Realität in Chiapas ist kompliziert. So richtig den Durchblick haben auch wir nicht. Wer sind die Guten? Wer sind die Bösen? Und wer liegt irgendwo dazwischen? Hier ein Versuch, die verschiedenen Rollen darzustellen. Einwände werden übrigens gerne entgegen genommen…

die Indigenen: 
Keiner wird abstreiten, dass den Indigenen durch die spanische Eroberung viel Unrecht getan wurde. Noch heute sollen Maya von den Behörden oft in der erniedrigenden "Du"-Form statt mit "Usted" angesprochen werden. Und es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass Chiapas von Armut geprägt ist, dass Analphabetismus, Krankheiten und selbst Hunger ungleich stärker verbreitet sind als andernorts. Doch was wollen die Indigenen wirklich? Hilfe und Entwicklung? Ihre Ruhe? Geld? Arbeit?  Und wer sind überhaupt die Indigenen? Als Beispiel gehören auch die Lacandonen zu den Indigenen, ein Volk, das bis Mitte des letzten Jahrhunderts isoliert im Dschungel gelebt hatte und selbst von den Spaniern verschont blieb. Heute wird ihre Lebensgrundlage nicht nur von der Moderne, sondern auch von anderen Indigenastämmen bedroht, die dank einer sozialistischen Landreform um 1940 Zugang zum Lacandon-Dschungel erhalten haben und ihn nicht mit nachhaltigen Methoden zu nutzen wissen.

die Zapatisten: 
Die Zapatisten traten an Neujahr 1994 in Erscheinung, als sie mehrere Rathäuser in Chiapas einnahmen – und damit eine blutige Reaktion des Militärs hervorriefen. Angeführt vermutlich von einem Philosophie-Professor aus Mexiko Stadt (also keinem Indigenen), dem "Subcommandante Marcos", organisierten sich zahlreiche Indigena-Vertreter zur EZLN, der zapatistischen Armee der nationalen Befreiung. Die Zapatisten lenkten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Elend der Indigenen, konnten aber keine wirkungsvollen Gesetze erwirken. Der Zapatistenaufstand geniesst selbst in Mexiko-Stadt gewisse Sympathie, inzwischen ist die Bewegung aber abgeflacht – und zumindest in der Fussgängerzone von San Cristobal Richtung linkspolitisches Ideologie-Gehabe abgedriftet, mit dem sich die Indigenen wohl kaum mehr identifizieren können.

die Rancheros: 
Chiapas ist an sich ein sehr fruchtbares Land, was zahlreiche Kaffee- und Kakaoproduktionen beweisen. Wie so oft gehört die lukrative Gross-Landwirtschaft aber zum Grossgrundbesitz auswärtiger – Ausländer und Stadt-Mexikaner. Die Zapatisten haben manche dieser Rancheros enteignet. Die ehemaligen Besitzer führen an, dass sie den Indigenen Arbeit gaben, während das einstmals produktive Land nun brach und unbenutzt liege.

die Regierung und das Militär: 
Die Zapatisten warfen der Regierung in den 1990er Jahren Korruption vor und sind bis heute schlecht auf Zentralmexiko zu sprechen. Andererseits unterstützt die (seit Jahrzehnten übermächtige) Regierungspartei PRI selbst das von Indigenen autonom geführte Chamula… Militär und Regierung wird von den Zapatisten vorgeworfen, Abmachungen nicht eingehalten und zapatistische Forderungen blockiert zu haben. Ausserdem sollen sie heimlich paramilitärische Gruppen unterstützt haben. Viel enttäuschte Hoffnung setzten die Zapatisten in den Regierungswechsel 2000, als es einer Oppositionspartei gelang, bis 2012 den Präsidenten zu stellen.
Zur Situation heute stelle ich persönlich fest, dass das Militär äusserst zurückhaltend auf Proteste und Besetzungen (zum Beispiel die Autobahn-Zahlstellen!) reagiert – was wiederum mich und andere Reisende verunsichert. Andererseits haben wir unter dem Label "Vivir Mejor" viele Aufklärungs- und Entwicklungsprojekte der Regierung gesehen.

die paramilitärischen Gruppen: 
Im Zuge des Zapatistenaufstandes in den 1990-er Jahren formten sich mancherorts paramilitärische Gruppen. Diese, meist ebenfalls Indigene, gingen brutal gegen Zapatisten und Sympathisanten vor. Unzählige Familien mussten aus den Dörfern flüchten und damit ihren spärlichen Besitz den Paramilitärs überlassen. Die Zapatisten vermuten, dass die Paramilitärs von Militär und Polizei wenn nicht trainiert, so doch geschützt wurden. Ich weiss nicht, ob und wann die Flüchtlinge zurück in ihre Dörfer konnten – doch selbst dann werden die Gräben tief sitzen.

die Kirche: 
Gerne wird mit dem Finger auf die katholische Kirche als Urheber allen Elendes gezeigt. Es ist bekannt, dass die Kirche einst eine erhebliche, unehrenhafte Rolle spielte. Im Zapatistenaufstand (wie auch bei anderen Konflikten in Lateinamerika) sind die Geistlichen aber oft die einzigen und besten Vermittler und Verteidiger der indigenen Bevölkerung. So fungierte der Bischof von San Cristobal als Vertrauensperson der Zapatisten in den Verhandlungen mit der Regierung. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind auch vermehrt evangelikale Kirchen aktiv (z.B. das etwas täuschend benannte Summer Institut of Linguistics), welche die Indigenen zu konvertieren versuchen und neben Hoffnung auch neues Elend (siehe auch die vertriebenen Chamuler) verursachen.

die Touristen: 
Chiapas ist eine beliebte Touristendestination für Mexikaner wie für Ausländer. Letztere zeigen eine überwältigende Sympathie für die Zapatisten. Wenigen ist wohl bewusst, dass sie auch ein wirkungsvolles Kriegsinstrument sind: Die Zapatistenführer benutzten sehr bewusst die "Sicherheit" der Weltöffentlichkeit für ihren Kampf. Heute sind es Zapatisten-Souvenirs, hinter denen eine nicht zu verachtende Industrie stecken muss. Andererseits benutzt auch die Regierung den Tourismus sehr zielgerichtet: Ecotourismus (ein Thema für sich…) ist ihre Strategie, den Zapatisten den Nährboden zu entziehen. Die Touristen als reine Manipulations-Opfer darzustellen, wäre natürlich auch zu einseitig: Tourismus ist auch eine gewaltige Geldindustrie. Geld regiert bekanntlich die Welt, auch in Chiapas. Und so diktieren die Ideale und Wünsche der Besucher zu einem erheblichen Mass, was, wie und wo in San Cristobal angeboten und verkauft wird. Sozi-Tourismus als die neue Form von Kolonialismus…

Demonstration gegen Gewalt an Frauen auf dem Hauptplatz von San Cristobal

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